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Weinfass muss kurz weichen: Hofheim gedenkt der ermordeten Juden

Gepostet in Allgemein

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An diesem Donnerstag wird auf dem Tivertonplatz wieder der jüdischen Bürgerinnen und Bürger gedacht, die in der Pogromnacht 1938 und in den darauffolgenden Jahren entrechtet, verfolgt, deportiert, in den Suizid getrieben oder ermordet wurden. Die Gedenkstunde wird überschattet von den barbarischen Angriffen der Terrororganisation Hamas auf Israel. Offener Judenhass tobt seither auf den Straßen vieler Städte, und die Sozialen Netzwerke werden von antisemitischen Kommentaren geflutet. Von einem auch in Deutschland zunehmenden und verfestigten Antisemitismus wird gesprochen, und Hofheim ist da sicher nicht außen vor. Hier gibt ausgerechnet das Verhalten der Stadtspitze Anlass zum achtsamen Aufmerken. Gedanken zum Tag des Gedenkens.

Das Geschehene darf nie, niemals vergessen werden! Das sagen Politiker am 9. November allüberall. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte der Nazi-Mob jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand gesetzt. Tausende Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, verhaftet oder getötet.

85 Jahre ist das jetzt her. Die Pogromnacht markierte den Übergang von der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung zu ihrer systematischen Verfolgung.

Das heutige „Türmchen“ am Untertorplatz war damals eine Synagoge. Auch sie wurde vom Nazi-Mob geplündert und verwüstet.

Der Stahl lässt die Namen auf der Tafel verschwinden

In der Kreisstadt Hofheim ist das Gedenken an das Geschehene, das nie, niemals vergessen werden sollte, eher überschaubar. In den Räumen der Synagoge wurde Anfang der 90er Jahre – nein, keine Gedenkstätte, sondern eine Weinstube eingerichtet. „Zum Türmchen“.

Vor fünf Jahren – erst vor fünf Jahren! – hängte die damalige Bürgermeisterin Gisela Stang (SPD) eine Gedenktafel auf. Nicht vor dem „Türmchen“, sondern in einer Ecke dahinter. Möglichst unauffällig.

In die 100 mal 150 Zentimeter große Metallplatte hatte man die 89 Namen von Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens eingravieren lassen, die in den Jahren 1933 bis 1945 ihr Leben verloren hatten. „Mit der Tafel erinnern wir an diese Menschen und holen sie in die Stadt zurück“, sagte Stang.

Das ausgewählte Material aber dürfte einer wach bleibenden Erinnerung an den „Schicksalstag der Deutschen“ (Wolfgang Schäuble) nicht gerade dienlich sein: Der sogenannte Cortenstahl soll zwar, wie die Stadtverwaltung auf eine Anfrage mitteilte, „ewig haltbar, schön anzusehen und praktisch unverwüstlich“ sein. Er setzt allerdings auch sehr leicht Rost an. Und genau das unterstützt heute das schnelle Vergessen:

Die eingravierten Namen sind sind längst unter einer Schicht aus rotbraunem Rost verschwunden. Selbst aus nächster Nähe können sie nur mühsam entziffert werden.

Gedenktafel 202307
Die Gedenktafel an der Wand des Türmchens: Der Blumenkranz drumherum schmückte die Metalltafel bereits bei der Einweihung, wurde erst kürzlich abgenommen.

Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, dürfte diese Form der Erinnerungskultur in Deutschland gemeint haben, als sie sagte: Wer denke, „die Vergangenheit ‚bewältigen‘ zu können wie eine lästige Steuererklärung, der verkennt das Wesen des Erinnerns“.

Wenn die Stadtspitze es ernst meint mit Gedenken, dann sollte sie dafür Sorge tragen, dass die Namen der ermordeten Jüdinnen und Juden wieder lesbar werden. Zugleich sollte es allen Stadtpolitikern eine Verpflichtung sein, der Gedenktafel ein würdiges Umfeld zu geben, das die Bereitschaft zum Nicht-Vergessen erkennbar werden lässt.

Eine angemessene Erinnerungskultur verlangt mehr als einmal jährlich eine Gedenkstunde. Noch einmal Knobloch: „Erinnern ist unsere Zukunft. Nur so können wir die Vergangenheit verinnerlichen – anstatt bewältigen.“

Aber – will man das überhaupt?

Juden in Hofheim: Rathaus-Strategie dient dem Vergessen

Im Sommer dieses Jahres stellte das Restaurant „Zum Türmchen“ direkt unterhalb der Gedenktafel Tische und Stühle auf – mit Genehmigung des Rathauses. „Hofheim macht’s möglich: Schmausen unter den Namen der ermordeten Juden”, schrieb der Hofheim/Kriftel-Newsletter nach dem Hinweis einer Leserin.

Tische und Stühle wurden daraufhin ein Bisschen zur Seite gerückt. Den Verantwortlichen im Rathaus genügte das. Man will ja schließlich dem Gastronomen das Geschäft nicht verderben.

tuermchen sommer 2023 Juden
Foto aus dem Sommer dieses Jahres: Tische und Stühle standen direkt vor der Gedenktafel und luden zum leckeren Essen ein.

Inzwischen ist Spätherbst. Tische und Stühle sind weggeräumt. Das Gebinde aus verrotteten Blumen, das fünf Jahre lang um die Gedenktafel hing, wurde endlich abgenommen.

Unter den Namen der Ermordeten steht jetzt ein Weinfass. Blutrot.

In die Ecke hat jemand einen Besen abgestellt. Stört offensichtlich niemanden.

Juden
Tage vor der Gedenkstunde: Hofheim erinnert an die ermordeten Juden – ohne verrottetem Blumenschmuck, dafür mit Weinfass und Straßenbesen.

Wir hatten vor unserem ersten Bericht – er erschien im August – im Rathaus nachgefragt, ob eine Gedenktafel, auf der kaum etwas zu erkennen ist, wirklich dem Gedenken entspricht, von dem die Politiker reden.

Hofheims Stadtverwaltung zeigte sich gelassen: Man werde prüfen, wie die Stahlplatte bearbeitet werden könne, „dass eine bessere Lesbarkeit erreicht werden kann“, hieß es.

Drei Monate sind seither vergangen. Getan hat sich erkennbar nichts.

Also haben wir jetzt noch einmal im Rathaus nachgefragt. Diesmal gab es die Antwort: „Inwiefern die Tafel nun nachträglich von der Patina befreit und anschließend eventuell auf andere Art vor Verwitterung geschützt werden kann, testet die Fachfirma derzeit in verschiedenen Verfahren. Die Ergebnisse stehen noch aus.“

Prüfen. Testen. Abwarten.

Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat kürzlich einen „erinnerungspolitischen Klimawandel“ beklagt.

Die Kälte, mit der sich die Verantwortlichen im Hofheimer Rathaus um ein angemessenes Gedenken bemühen, lässt frösteln:

Prüfen. Testen. Abwarten.

Es klingt wie eine Strategie zum schnelleren Vergessen.

Neben der Gedenkstunde: Wein, Sekt und bunte Comics

Zur Gedenkstunde an diesem Donnerstagabend lädt ein – nein, nicht die Stadtspitze, nicht der Bürgermeister. Sondern eine Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Auffällig: In früheren Jahren hat das Rathaus den Termin stets rechtzeitig publik gemacht und eine entsprechende Meldung auf der städtischen Webseite veröffentlicht. Diesmal wurde darauf verzichtet, warum auch immer.

Die bekannten Honoratioren werden natürlich auf dem Tivertonplatz erscheinen. Vertreter des Magistrats, des Landkreises und der Kirchengemeinden. Hoffentlich auch ein paar „normale“ Bürgerinnen und Bürger.

Doch nicht alle können kommen.

Hofheims Gewerbeverein IHH hat für diesen Abend zu einer „Händlertour“ eingeladen. Snacks, Wein und Sekt werden ganz in der Nähe der Gedenkstunde gereicht. Keiner hat’s moniert, nur die Linken störten sich daran. „Dass gerade in Zeiten wie diesen das Gedenken an die Reichspogromnacht auch bei den Hofheimer Geschäftsleuten offenbar bedeutungslos geworden ist, erschüttert mich schon“, schrieb die Stadtverordnete Barbara Grassel in einem kleinen Leserbrief. Die Lokalzeitung drückte ihn in eine Randspalte, ganz nach unten.

IHH-Chef Markus Buch sagt heute, es sei doch sein Bemühen, den IHH beleben. Bei der Planung der Veranstaltung habe man leider nicht an den Gedenktag gedacht, dafür entschuldige er sich. Verschieben oder absagen könne man den Termin nicht mehr, 20 Personen hätten sich angemeldet.

In der Volkshochschule hören wir in der Stunde des Gedenkens einen Vortrag über Comics der 1980er Jahre. Batmann, Maus & Co – echt lustig. Wer will stattdessen schon gedenken?

Der Ortsbeirat Langenhain wurde für diesen Abend zu einer Sitzung einbestellt. Es geht um eine Lebensmittelbox fürs Dörfchen, einen neuen Geldautomaten, Fragen zum Sportplatz… Alles bestimmt total wichtig. Wer soll da noch Zeit für ein Gedenken haben?

Um 18 Uhr geht’s los.

Glocken läuten. Schüler singen. Blumengebinde werden abgelegt, Kerzen entzündet. Ein paar Ansprachen sind vorgesehen.

Und außerdem werden die Namen der ermordeten Jüdinnen und Juden verlesen, die auf der Tafel nicht mehr zu lesen sind.

Zum stillen Gedenken.

Das Weinfass wird, wahrscheinlich, vorher etwas zur Seite gerückt. Den Besen wird man woanders platzieren, vielleicht.

Am Freitag kann die rote Tonne dann ja wieder unter die Gedenktafel gestellt wieder.

Die Namen darauf kann eh keiner lesen.

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2 Kommentare

  1. Berthold Neitzel

    Ja, Hofheim gedenkt der ermordeten Juden! Das ist auch in diesem Jahr so. Die Stadtspitze ist vetreten mit Bürgermeister, Stadtverordnentenvorsteher, Erstem Stadtrat und Axel Wintermeyer. Ich finde den Beitrag des Autors daher merkwürdig, das dieser Tag nicht entsprechend gewürdigt wird, egal wer nun federführend ist.
    Leider wird auf den Leserbrief von Frau Dr. Grassel im HK auch noch eingegangen.
    Ich war bei der Gedenkveranstaltung am Türmchen und konnte danach noch den Händlerrundgang des IHH (bei dem ich im Vorstand bin) begleiten. Es geht also beides. Am 09.11. geht das Leben weiter, es fanden Martinsumzüge statt, im Schauspielhaus gab es ein Musical. Diese Gratwanderung hat die Stadt Hofheim gut umgesetzt.

    10. November 2023
    |Antworten
    • Gerhard Sch.

      Herr Neitzel sitzt nicht nur im Vorstand der IHH. Er ist auch – das hat er vermutlich nur vergessen zu erwähnen – im Vorstand der Hofheimer CDU. Diese Info sollte jedoch nicht unterschlagen werden. Denn nur dann ist sein Lob für die Stadtspitze und seine Meinung zum Grassel-Leserbrief richtig einzuordnen.

      Die im Bericht enthaltene Kritik am städtischen Erinnerungswesen bezieht sich nach meinem Verständnis nicht auf die Gedenkstunde als solche, zu der die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit aufgerufen hatte. Angemahnt wird vielmehr, dass die Stadt seit langer Zeit zuschaut, wie die Namen der ermordeten Juden auf der Gedenktafel verschwinden. Ein solches Verhalten lässt in der Tat an der Erinnerungskultur der Verantwortlichen zweifeln.

      13. November 2023
      |Antworten

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